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Dunkler Stern


Das neuste Werk von Simonida Rajčević ist eine fast 150 Zeichnungen umfassende Installation. Der Raum wird in eine dunkle Galaxie verwandelt, die Myriaden von schnell mit freier Hand dahingeworfener Zeichnungen beinhaltet, jede von einem kurzen Text begleitet. Die Teilstücke beziehen sich alle auf einen bestimmten Eindruck aus dem Leben von Simonida Rajčević, ob es nun ein Film, Musik, Popkultur, andere Künstler, Freunde oder Geliebte sind.
Beim Betreten des Raumes betritt man das Werk, versinkt buchstäblich darin, da der Boden der Galerie mit einer dünnen Gummischicht bedeckt ist, auf der Simonida Rajcevic mit Marker geschrieben und gezeichnet hat. Während man sich durch die Galerie bewegt und die Wörter und Formen auf dem Boden zu enträtseln versucht, hinterlässt man auf dem Werk, in welches man mit dem Gewicht seines eigenen Körpers eintaucht, seine persönliche Spur. “Die Installationskunst… unterscheidet sich von den traditionellen Medien (Skulpturen, Malereien, Photographien, Videos) dadurch, dass sie sich – buchstäblich in dem Raum anwesend – unmittelbar an den Beobachter wendet… Die Installationskunst geht von der Voraussetzung aus, dass sie sich an den verkörperten Beobachter wendet, bei dem Tast-, Geruchs- und Gehörsinn ebenso geschärft sind wie das Sehen selbst.”³ Simonida Rajcevic nimmt zwei Haupttaktiken der zeitgenössischen Installationskunst mit dem Ziel in Anspruch, dass eine Interaktivität verwirklicht wird: erstens bedient sie sich kurzer Texte in den Zeichnungen, die als nichtlineare Narrative den Beobachter anregen, an der Auslegung der Zitate aktiv teilzunehmen; zweitens führt sie in ihr Werk eindringliche und akustische Komponenten ein.
Die Anhäufung von Bildern sorgt für eine Reizüberflutung. Auf schwarzen Plastikmüllsäcken wurde mit meist weißem Ölmarker gezeichnet und die Teilstücke (70cm x 110cm) weisen kaum Farbe auf. Jede Zeichnung bezieht sich auf einen bestimmten Moment in Rajčevićs Leben, stellt somit ein abgeschlossenes Kapitel dar. Eine große Inspirationsquelle ist das Werk der Britin Sarah Kane, das mit Schmerz, erlösender Liebe und sexuellem Verlangen spielt, sowohl psychiologisch als auch physiologisch. Eine der Zeichnungen beinhaltet die halb abstrakte Darstellung eines nackten Körpers, begleitet von einem Zitat aus Kanes Stück 4.48 Psychose: “You allow this state of desperate absurdity. You allow it.” („Du ermöglichst diesen Zustand verzweifelter Absurdität. Du erlaubst ihn“). Viele Zeilen dieses Stückes lesen sich wie das Tagebuch eines psychotischen Einzelnen oder wie ein Dialog zwischen Patient und Psychologen. Kane schrieb, dass sie die Bühne anziehe, weil es “in dem Theater keine Erinnerung gibt und dieses unter allen Kunstarten am nahesten der Existenz steht… Ich komme immer wieder in der Hoffnung, dass mir jemand irgendwo in dem dunklen Saal eine Szene vorführt, die mir in das Gedächtnis einbrennen würde.”².
Das zentrale Thema des Werkes stellt zweifellos die menschliche Figur dar, unabhängig davon, ob es sich um einen vereinsamten Einzelnen, um ein Paar im Liebesverhältnis oder um Eltern handelt, die ihre Kinder in den Armen halten. Simonida Rajcevic entwickelte das visuelle Wörterbuch, in dem verschiedene Körper durch ihre Positionen auf ein bestimmtes Verhältnis hinweisen. Die Künstlerin tritt hier als leiser Beobachter auf, der den Rhythmus der Anatomie in verschiedenen Szenarien und ihre Bedeutung prüft. Simonida Rajcevic erinnert uns daran, dass die Kunst aus etwas hervorquellt, was Leben heißt, in all seiner Schönheit, seinem Leid, seiner Zartheit und Angst. Durch Aufteilung der Zeichnungen in Gruppen und Untergruppen, baut sie eine Ballade auf, die unsere Aufmerksamkeit auf die Namen von Allen Ginsberg, Olivera Katarina, Dash Snow, Samuel Beckett, Kurt Cobain, Milena Markovic, Jelena Dobricic und vielen anderen richtet. Wenn sie Zitate in die Zeichnungen einfügt z.B.: “Die Augenblicke wie diese dauern nie lang” oder “Jetzt kann ich nicht mehr sicher sein, schwarz ist weiß und kalt ist heiß, weil was ich verehrt hatte, hat meine Liebe davongeschlichen”, lässt Simonida Rajcevic Raum übrig für vielfältige Auslegungen und gibt dem Beobachter die Gelegenheit für Träumereien.
Ein einzelner Stern ist am Nachthimmel sichtbar, die sichtbarsten Sterne auf dem Himmelsgewölbe sind jedoch die, die sich in Konstellationen sammeln, wie Wassermann, Steinbock und Pegasus. Während des größten Teiles seiner Lebensdauer glüht der Stern so, dass er die Energie auswirft, die zunächst seinen Kern durchströmt und erst dann in dem äußeren Raum des Weltalls glänzt. Simonida Rajcevic bildet ihre eigenen Konstellationen der Sterne, die auf der dunklen Kunststoffoberfläche des Galerieraums glänzen und dabei die universalen Themen der Liebe, der Ablehnung, des Leides, der Sexualität und des Todes beleuchten.


Boško Bošković
Üebersetzung: Verona Pleskonja
1 Bishop, Claire. Installation art : a critical history. Tate, London. 2005. str. 6.
2 Zeitungsartikel Guardian 13 August 1998

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